Wir ADS’ler

Nicht unsere Kinder leiden unter ADS – wir tun es, und übertragen den kulturellen Virus auf sie. Wo uns dank des krankhaften Multitaskings aber Anerkennung gezollt wird, erklären wir Kinder für gestört.

ADS und sein hyperaktiver Bruder ADHS sind das Stigma der aktuellen Generation von Kindern. Sie sind eine Erklärung für etwas, dass man früher gemeinhin als „Rabaukentum“ abtat.
Nun will ich Menschen, die als Erwachsene über eine medizinischen Diagnosen für ADS verfügen nicht Lüge strafen – ADS gibt es. Doch es ist auffällig, dass ADS und ADHS in den letzten Jahren als Grund für so ziemlich jeder „Aufmerksamkeitsstörung“ herangezogen werden, die Kinder nicht in unseren gestreßten Alltag pressen. ADS wird als Ursache für etwas genommen, dass selbst aber eigentlich Wirkung ist. Wir sollten anfangen, zwischen chemisch und kulturell bedingter ADS zu unterscheiden.

In einem bemerkenswerten Interview mit der WELT am Sonntag spricht die anonyme Autorin des Buches „Plötzlich Sorgenkind. Aus dem Leben einer aufmerksamkeitsgestörten Familie.“ Und sie spricht mir aus der Seele.
Denn ihre Tochter ‚Lenja‘ erinnert mich durchaus an meinen ältesten Sohn: ADS diagnostizierte Kinder lassen sich schnell ablenken, träumen im Unterricht, wirken abwesend oder zerstreut, haben ein schlechtes Zeitgefühl und neigen zum langsamen arbeiten. Sie reden übermäßig viel, haben viele Ängste, …

Was mich in dem Interview berührt hat, war eine These der Autorin: dass wir Erwachsenen selbst ADS haben. Dabei ist nicht ein falscher Stoffwechsel die Störung, sondern unser Alltag. Und der führt vielleicht zur Störung des Stoffwechsels.
Nun neigte ich selbst bereits in meiner Jugend zu ADS-Symptomen: ich war verträumt, habe es nie hin bekommen mich wirklich zu organisieren, ließ mich schnell ablenken, neigte zu Selbstzweifeln. Und der Alltag fördert dies.

Ich habe mir irgendwann spaßeshalber den ADS-Fragenkatalog geschnappt und versucht die Fragen auf uns zu übertragen„, erzählt die Autorin im Interview. „Und ich hätte fast alles ankreuzen können. Die Arbeit und der Alltag zwingen einen zum ständigen Multitasking. Der erste Blick am Morgen und der letzte vor dem Einschlafen gilt dem Display des Smartphones. Es ist beim Zähneputzen dabei, beim Frühstück, sogar auf dem Klo. Es gibt immer nur geteilte Aufmerksamkeit, denn beim Simsen lässt sich nebenbei noch ein Schulbrot schmieren, beim ersten Telefonat die Kaffeebohnen in den Vollautomaten nachfüllen. Das ist eigentlich gestört, es sieht nur von außen so aus, als wäre man fleißig und gut organisiert. Wenn die Kinder dazwischengrätschen, ist man gereizt und fahrig – das sind alles Symtpome einer Aufmerksamkeitsstörung.

Nun würde ich selbst nicht einmal all die Schuld auf mein Smartphone oder die Arbeit schieben. Ich glaube, es hängt auch viel mit dem Gefühl zusammen, eben dieses Multitasking beherrschen zu können. Weil uns weißgemacht wird, dass wir es können. Weil es Anerkennung findet. Wer telefonieren, twittern und Kaffee machen gleichzeitig kann, ist cool. Wer konzentriert nur telefoniert weniger.
Und dabei ist erst einmal nebensächlich, ob uns das Smartphone als Flucht dient, wegen der Arbeit da sein muss, oder nur aufgrund des Gefühls irgendwann gebraucht werden zu können und etwas zu verpassen (Thema: Fear of Missing Out (FOMO)).

„Multitasking ist keine Begabung, sondern ein Handicap“

Ich bin schuldig, gestört zu sein. Und die Frage ist, wie viel der Gestörtheit ich auf psychischem Weg an meine Kinder gebe. ADS – eine Geburts- oder Lebensveranlagung?
Gen oder Kultur?
Reale Krankheit oder jugendpsychiatrische Entwicklung?
Die Zahl der ADHS-Diagnosen bei Jugendlichen bis 19 Jahren sind bundesweit in den letzten fünf Jahren um 42 Prozent gestiegen. Dabei ist ADS eben kein Virus. Das sollte uns zu denken geben.

Uns wird immer erzählt, wir können Beruf und Kind unter einen Hut bringen. Alles eine Frage der Organisation. Aber wir organisieren unseren Alltag um unser Leben – jede freie Minute muss ausgefüllt werden. Und dabei vergessen wir, dass Beziehungen nur mit Zeit erschaffen werden können. Zeit, die wir nicht haben.
Ob unser Alltag als Familie gerade ‚gut‘ oder ’schlecht‘ ist, kann ich zum Beispiel an der unterschiedlich starken Ausprägung der „Unorganisiertheit“ unseres ältesten Sohnes sehen. Er ist ein Barometer.

Ich will damit nicht behaupten, jeder Fall von aktuell diagnostiziertem ADS wäre durch Entschleunigung heilbar. Aber ich glaube, viel der Kinder bei denen Eltern, Job, Schule, Pupertät und Technologie aufeinander treffen, könnte eben dies helfen.
Uns als Familie nehme ich da nicht aus. Einfach mal das iPhone weglegen und sich wieder vollends Hals über Kopf mit den Kindern in den Wald stürzen. Hilft. Uns Erwachsenen selbst dann, wenn wir keine Kinder haben – eben einfach allein durchs Unterholz rennen und noch einmal Kind sein.

Bild: Ian D. Keating

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