Geringe Lesezeiten im Web: Hilft „Sie benötigen 5 Minuten für diesen Text“?

tl;dr: Menschen lesen Texte im Internet nicht mehr zu Ende. Weil sie keine Zeit mehr dafür haben? Wie können wir als Inhalte-Produzenten da entgegen steuern? Ein paar Gedanken – und eine Idee.

Ich schreibe Geschichten, seit der fünften Klasse.
Ich schreibe für Zeitungen, seit ich 17 Jahre bin.
Ich schreibe ins Interweb, seit ich dort bin.
Ich schreibe in dieses Weblog seit Ende 2000.
Und seit 2005 verdiene ich mein Geld damit, ins Interweb zu schreiben – meistens, indem ich für Kunden blogge.

Deshalb frage ich mich in den letzten Jahren natürlich nicht nur, was Menschen lesen wollen. Sondern auch, ob jene, die in ein Blog oder auf eine Website kommen, es auch tatsächlich lesen.
Und die Antwort ist – mehr oder weniger: Die meisten tun es nicht.
Zumindest nimmt die Zahl derer, die sich tatsächlich mit Inhalten beschäftigen in den letzten Jahren zunehmend ab.

Das ist nicht nur ein Gefühl.
Wenn man sich die vor einiger Zeit auf Slate veröffentlichen Charts anschaut, fängt man als Schreiber eigentlich schon fast an zu heulen. Denn man merkt – und das betrifft nicht nur Slate -: Bis zur unteren Hälfte eines längeren Artikels liest keiner mehr. Hier zum Beispiel: Als Leser mal nach links und rechts schauen – in den letzten Sekunden sind jede Menge Mitleser weggebrochen 😉

Eine Vielzahl von Menschen „lesen“ heute Texte, indem Sie sie mit Freunden teilen.
Headline, Teaser, drei Sätze – cool!, Klick, Weg.

Die Frage ist natürlich: Wie schafft man es, Leser zu ermutigen, die eigenen Inhalte auch tatsächlich zu lesen?
Gute Texte. Klar. Gute Themen. Auch klar. In einem Teaser den Artikel auf den Punkt bringen, um den Sinn des Lesens aufzuzeigen. Zwischenüberschriften, Bilder, lesbare Schrift, große Zeilenabstände. Machen wir alles.
Meist ist es aber überhaupt nicht das.
Meist ist es die fehlende Zeit der Leser im Alltag – oder geht es nur mir so? Wenn ich meine Liste mit Texten „zu lesen“ anschaue bin ich da keine Ausnahme. Auch, wenn ich in das digitale Bücherregal meines iPad sehe – ich lese aktuell drei Bücher parallel, habe immer gut mindestens zwei Dutzend Tabs im Browser auf mit Texten die ich lesen will, und sammle Booksmarks mit halb fertig gelesenen Texten, die ich mir aufhebe, wenn ich auf das Wissen zugreifen muss – später irgendwann mal.

Ich frage mich: Hilft eine Funktion, die anzeigt, wie lange man benötigt, einen Text zu lesen?
Könnte es helfen, wenn man gleich direkt am Anfang anzeigt, „Für diesen Text brauchst Du 4 Minuten Lesezeit“?
Das Designbüro iA zeigt eine solche Lösung beispielsweise in seinem Blog. Und im iA Writer – einer App für OSX und iOS, in der 90% meiner Blog-Texte entstehen -, wird die Lesezeit auch angezeigt.
Vier Minuten sind übrigens rund 600 Wörter. Das ist eine Latte Holz – und vier Minuten eigentlich nicht viel Zeit. Aber es hilft beim Einschätzen; nicht bei der Frage ob mir der Artikel es „Wert“ ist, sondern ob ich in der Mittagspause oder der U-Bahn die Zeit noch habe …

Ich habe mir die Daten meines Autoblogs „autokarma“ mal angeschaut. Die längste Zeit verlesen Leute bei Autotests – klar, die finden sie meistens via Google, weil sie genau danach suchen. Dann nimmt man sich die Zeit auch. Und wenn meine prognostizierte Zeit bei 4 Minuten Lesezeit liegt, bleiben die meisten in der Tat auch vier bis sechs Minuten. Bei den „normalen“ Artikeln, die man tagsüber als Besucher liest liegen die Lesezeiten aber eher bei zwei Minuten. Das ist denke ich noch immer ganz gut – von der Wortanzahl her liegen meine Artikel geschätzt meist bei einer Lesezeit von 3 bis 4 Minuten Lesezeit, einige auch bei 8 Minuten; darüber eigentlich nie.
Aber lässt sich die durchschnittliche Lesezeit verbessern – und damit die frühe Absprungrate verkleinern -, wenn ich (potentiellen) Lesern sage, wie lange sie für einen Artikel an Lesezeit benötigen?

Ich probiere es in den kommenden Wochen einfach einmal.
Ich habe – hier im Test zum Ford Fiesta ST zum Beispiel sichtbar – auf meine Artikelseiten jetzt eine Zeitangabe eingebaut. „Für diesen Artikel benötigst Du ca. xx:xx Minuten Lesezeit.“ steht dort jetzt. Und ich sitze in den kommenden Wochen mal gespannt vor dem Monitor und beobachte, ob das eine Auswirkung auf die Lesezeit hat …

Was denkt ihr? Was hilft euch dabei, einen (wir setzten voraus: interessanten) Text tatsächlich zu lesen?

P.S. Dieser Text hatte bis zum „P.S.“ übrigens 715 Wörter, die ihr in schätzungsweise 3 Minuten und 36 Sekunden gelesen hattet.

P.P.S.: Die Lesezeit für einen Artikel ermittle ich durch ein einfaches PHP-Script: Wortzahl / 200 = Zeit; der durchschnittliche Leser schafft 200 bis 240 Wörter pro Minute. Die Funktion für WordPress habe ich hier

7 Kommentare

  1. Da hätte ich jetzt doch mitstoppen sollen, hoffe ich denke das nächste Mal dran, um selbst ein Gefühl zu bekommen und die Hürde für mich mit der Zeit selbst genauer spezifizieren zu können von „laaaanger Text“ auf „2,7 Min Text“ – ist aber nicht nur die pure Menge an Buchstaben sondern auch die inhaltliche Komplexität (bei manchen Sätzen will man doch ein bisserl drüber nachdenken, oder ein gelungenes Bonmot geniessen).
    Gibts ein Addon im Browser für die Lesezeit, das dann an eine gemeinsame Datenbank „berichtet“, um vergleichen zu können? Quasi ein Readalytics 😉 Wäre eine passende Ergänzung für http://tldr.io

    Die reine Beitrags-Textmenge machts aber nicht aus. Da überall schon wieder andere vermeintlich interessante Texte um Aufmerksamkeit betteln mit plakativen Überschriften, dringenden Empfehlungen, offenen Fragen, merke ich bei mir auch ein ständiges Abwägen: dableiben oder zum nächsten Text? Wofür gebe ich meine Zeit? Bringt mir der Text neue Erkenntnis? Hier wars so :-). Oft stelle ich aber fest: hätte ich mir sparen können, nix Neues. Oder es war nur ein wesentlicher Satz.

    Das kann der Autor natürlich nicht wissen, was ich noch nicht weiss. Aber leichter machen, mit Formatierung, Zwischenüberschriften, Listen, wichtige Begriffe (für den jeweiligen Absatz) fett. Das kann auch optisch weiterziehen „he, da kommt noch was Spannendes zu … „. Diese Aufmerksamkeitslenker werden aber meist eher für das Rundherum eingesetzt als für den Text, den eigentlichen Inhalt. Da schätze ich das Firefox-Addon „Clearly“, wenn der Text dann doch zu lang wird, wirds dann auch gleich auf die lange Bank verschoben, die mit dem Elefanten drauf. Sowas wie eine Wiedervorlage, bis es am anderen Ende runterfällt in die Rundablage.
    Clearly schätze ich aber auch, weil es den Text in der Formatierung anzeigt, die ich will, so wie ich Text gerne lese (Überschriften, Listen, fett/kursiv, Links, Bilder bleiben erhalten). Bei diesen ganzen Seiten mit Fitzelschrift bin ich sofort auf dem Clearly-Button. Die ganze „schöne Werbung“ ist damit auch weg, ganz ohne Adblocker. Ich will nur den Text, deswegen bin ich ja hierher gekomdas Drumherum schau ich mir – vielleicht – nachher an, wenn mich der Text überzeugt hat.

    … oder mit einem zu mir passenden Schreibstil (inhaltlich jetzt). Manches lese ich lieber, weil die Wörter, das zwischen den Zeilen, das Rot des Fadens, die Auswahl der (Fach)begriffe besser zu mir passen. Durch manches quäl ich mich, weil mich z.B. ein Testbericht, ein Artikel über ein Bericht über eine Studie halt doch interessiert. Wenns zu arg wird, suche ich nach Alternativen, oder die Wichtigkeit wird heruntergestuft, was dann beim nächsten holpernden, verschwurbelten Absatz wieder die lange Bank bedeutet.

    Geht also alles in die Richtung „form follows function“, vorausgesetzt da ist auch eine function für mich erkennbar.

  2. Eine Zusammenfassung und ansprechende Typografie. Übersichtlich, geordnet, mit Zwischenüberschriften.

    Ich kenne das Phänomen leider auch (von mir selbst und anderen), dass heute Texte kaum noch durchgelesen werden. Man muss die Leser schon fast bitten und flehen, dass sie doch alles lesen sollen. Eine grobe Zeitübersicht ist da nicht einmal eine blöde Idee, denn so kann, wie du ja erwähntest, der mobile Leser etwa entscheiden, ob er den Artikel bis zur nächsten Haltestelle schafft.
    Content-Produzenten müssen sich auf jeden Fall was einfallen lassen – wie immer. 😉

  3. Bei http://quote.fm/ wird die Länge der Quelle durch einen grauen Balken unter dem Zitat angezeigt. Per Mausover kommt dann die genaue Zeitangabe zum Vorschein. Keine Ahnung, ob die mal danach ausgewertet haben. Also sich die Frage gestellt, ob lange Artikel seltener geklickt werden als kürzere. Ist natürlich auch schwierig und liegt jawohl in erster Linie an der Qualität des Zitats.

  4. Wenn man gelesen werden will, muss man so schreiben, dass der Leser wissen will, wie es weitergeht. Die Menschen lesen eine tausendseitige Ken-Follett-Schwarte durch, weil es sie interessiert, was der Mann zu erzählen hat. Wenn es sie nicht (mehr) interessiert, pfeffern sie das Buch in die Ecke oder kaufen es erst gar nicht. Follett würde mit anderer Typografie oder einem Coveraufdruck („Sie benötigen 48 Stunden, um…“) keine Leser bei der Stange halten oder gewinnen.
    Ich sehe nicht, was im Internet anders sein sollte.

  5. Chris, kann man leider nicht vergleichen – es ist durchaus so, dass Lesen von Artikeln online etwas vollkommen anderes ist; und ich glaube durchaus, dass das auch mit der Länge bzw. der Erwartung derer zu tun hat.

  6. I beg to differ. Es geht darum, das Interesse des Lesers zu halten. Wenn ein Leser das Interesse verliert, hört er auf zu lesen, egal ob er einen 500-Seiten-Belletristik-Schmöker oder einen Internet-Artikel liest. „Bring den Leser dazu, weiterlesen zu wollen“ ist die wichtigste Aufgabe eines Autors, der gelesen werden will. Und ein Leser will nur dann weiterlesen, wenn ihn das Thema oder die Schreibe interessiert.
    Wenn einen als Leser ein Text nicht interessiert, dann liest man ihn doch nicht trotzdem weiter, weil man weiß, dass es nur drei Minuten dauert, das dröge Zeugs hinter sich zu bringen.
    Das Interesse des Lesers zu halten ist kein Problem, dass sich technisch lösen lässt.

  7. Ich gehe oben im Text ja mehrmals darauf ein, dass vorausgesetzt wird, dass der Text interessant ist. Interesse – und hier gehe ich von mir und einigen Bekannten aus – ist aber manchmal eben nicht das alleinige Kriterium einen Text (nicht) zu lesen, selbst wenn man es will.
    Ich denke es spielen verschiedene Faktoren in das „Anreizsystem“ zum Lesen hinein, ein interessantes Thema und eine nicht zu schlechte Schreibe sind dabei natürlich primär.

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